
Neue EU Vorschriften für Medizinprodukte verständlich erklärt
August 29, 2018
Von Markus Kälin
Head of Casualty Risk Engineering,und Marc Werdehausen,Life Science Industry Practice Specialist und Senior Underwriter Casualty,XL Catlin
Was haben Herzschrittmacher, Kondome und Zahnfüllungen gemeinsam? Sie alle werden als Medizinprodukte eingestuft, die einem medizinischen Zweck dienen. Und da Menschen diese Medizinprodukte benutzen, werden sie von nationalen Behörden auf der ganzen Welt reguliert, um ihre Sicherheit und Wirksamkeit sicherzustellen.
In der Europäischen Union (EU) hat das Europäische Parlament kürzlich zwei neue Verordnungen verabschiedet, mit denen sich die Vorschriften für Medizinprodukte deutlich verschärfen, inklusive sogenannte In-vitro-Diagnostika (IVD). Die Medizinprodukte-Verordnung (MDR) und die Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR) traten am 26. Mai 2017 in Kraft und erlangen Ihre Gültigkeit mit abgestuften Übergangsfristen von 3 bis 5 Jahren bis im Frühjahr 2020 (MDR) bzw. 2022 (IVDR) und gelten dann für alle Unternehmen, die Medizinprodukte oder IVD in der EU vertreiben.
Der Skandal, der ein Umdenken auslöste
Der Hauptgrund für die Überarbeitung des Regulierungsrahmens für Medizinprodukte und IVD war ein aufsehenerregender Fall, in dem ein Unternehmen unzulässige und unsichere Materialien für seine Produkte verwendete.
Das 1991 gegründete französische Unternehmen Poly Implant Prothèse (PIP) stellte insgesamt rund zwei Millionen Paar Brustimplantate aus Silikon her, die es nach Westeuropa und Lateinamerika exportierte.
In den 1990er-Jahren begann die U.S. Food and Drug Administration (FDA), Brustimplantate aus Silikon wegen wachsender Sicherheitsbedenken stark zu regulieren. Dies führte dazu, dass diverse Hersteller, darunter auch PIP, ihre Produkte in den USA nicht mehr vertreiben durften. Die FDA lehnte einen entsprechenden Zulassungsantrag von PIP mit der Begründung ab, es gebe sowohl Sicherheitsbedenken als auch Zweifel an den Herstellungspraktiken des Unternehmens.
Der weltweite Markt für Brustimplantate litt stark unter den von der FDA geäußerten Sicherheitsbedenken. Um die Gewinne trotz sinkender Absatzzahlen zu stabilisieren, begann PIP im Jahr 2000, für die Produktion seiner Implantate ein wesentlich günstigeres – und unzulässiges – Industriesilikon aus eigener Herstellung zu verwenden.
Im Jahr 2009 berichteten französische Ärzte, Brustimplantate von PIP seien anfälliger für Risse als Implantate anderer Hersteller. Neben den Kosten und Risiken der Explantation führen gerissene Brustimplantate auch zu Entzündungen und Irritationen. Ein möglicher Zusammenhang zwischen defekten Silikonimplantaten mit Krebsbildungen konnte bislang nicht eindeutig nachgewiesen werden. Schätzungsweise sind 400.000 Frauen weltweit den Risiken defekter Silikonimplantate ausgesetzt.
Auf den Bericht folgte eine Klagewelle gegen PIP in Frankreich und Großbritannien, woraufhin das Unternehmen Konkurs ging. Der Unternehmensgründer wurde 2013 wegen der Freigabe von Industriesilikon für Brustimplantate und Täuschung der EU-Behörden hinsichtlich des verwendeten Materials zu vier Jahren Haft und einem Bußgeld von 75.000 Euro verurteilt.
Im Zuge des Implantate-Skandals strebte die Europäische Kommission eine rasche Überarbeitung des Regulierungsrahmens für Medizinprodukte und IVD an, um deren Sicherheit zu erhöhen und das Vertrauen der Öffentlichkeit wiederherzustellen.
Strengere Kontrollen
Sowohl MDR als auch IVDR basieren auf dem Grundgerüst der bereits existierenden EU-Medizinprodukterichtlinie (MDD). So sehen die neuen Verordnungen weiterhin vor, dass Medizinprodukte und IVD erst nach einer „Konformitätsbewertung“ durch eine „Benannte Stelle“ zugelassen und nach Markteintritt kontinuierlich überwacht werden.
Die Einhaltung der Vorschriften wird für die meisten Hersteller kein Zuckerschlecken. Mit Inkrafttreten von MDR und IVDR werden aktuell gültige Zulassungen nicht übertragen, sondern man wird allgemein prüfen, ob Medizinprodukte die neuen, strengeren Anforderungen erfüllen und zwar ungeachtet dessen, ob ein Produkt schon seit Jahrzehnten auf dem Markt oder ein brandneues Produkt auf dem neuesten Stand der Technik ist.
Nicht nur die klinischen Daten, sondern auch die technische Dokumentation und die Kennzeichnung der Produkte müssen den verschärften Anforderungen genügen. Darüber hinaus sollen auch die Lieferketten und Produktionsverfahren der Hersteller genauer unter die Lupe genommen werden – was angesichts des Auslösers für die Überarbeitung des gesamten Regulierungsrahmens wenig überrascht.
Neben einer Reihe präventiver und proaktiver Maßnahmen, mit denen Unternehmen die nachhaltige Sicherheit ihrer Produkte sicherstellen sollen, sind in der MDR und der IVDR auch die Verantwortlichkeiten der Hersteller bei schweren Zwischenfällen umschrieben. Die meisten Hersteller werden deshalb um eine Überprüfung und Aktualisierung ihrer Standards und Richtlinien in Bezug auf Qualitätssicherung und Risikomanagement nicht herumkommen.
Gleichgewicht zwischen Sicherheit, Innovation und Bezahlbarkeit
Das übergeordnete Ziel der Gesetzesänderung ist es, Medizinprodukte für Patienten und medizinisches Personal sicherer und wirksamer zu machen.
Die Regulierungsbehörden stehen nun vor der Herausforderung, Rahmenbedingungen zu schaffen, die diesem Ziel gerecht werden, gleichzeitig aber Innovation und Bezahlbarkeit der Produkte fördern oder zumindest nicht einschränken. Wie also werden MDR und IVDR diese widerstreitenden Interessen miteinander vereinbaren?
Einerseits werden die erhöhten Anforderungen bei klinischen Tests und die verschärften Produkte-Zulassungskontrollen die Produktesicherheit deutlich erhöhen. Andererseits besteht aber die Gefahr, dass die Hürde für eine erneute Produkte-Zulassung aufgrund der anfallenden Zusatzkosten- und Zeitaufwandes zu hoch sein wird und die Hersteller etablierte Produkte nicht mehr produzieren und/oder Pläne für neue Geräte/IVD verwerfen werden. Letztere Entwicklung könnte vor allem hochinnovative Lösungen und Produkte für Nischenmärkte gefährden.
Möglich ist auch, dass die freie Wahl der „Benannten Stelle“ beim Zulassungsprozess in der EU ungewollte Auswirkungen haben wird, da dies den Konkurrenzdruck zwischen den zertifizierten Labors und Prüfungsunternehmen erhöhen könnte. Während in den USA eine einzige Behörde für Produktzulassungen zuständig ist, hat sich die EU für eine dezentrale Lösung mit externen Stellen entschieden. Dabei sollen unabhängige Unternehmen im Auftrag des jeweiligen Gesundheitsministeriums eines Mitgliedstaates Konformitätsbewertungen durchführen.
Die EU-Hersteller können somit das Land und die entsprechende Benannte Stelle frei wählen. So könnte beispielsweise ein spanisches Unternehmen die Bewertung bei einem Labor in Belgien in Auftrag geben, seine Produkte im Falle der Zulassung dann aber in allen EU-Ländern vermarkten. Der übergeordnete Zweck der neuen Gesetze, die Patientensicherheit zu erhöhen, könnte damit der freien Wahl eines schnellen und kostengünstigen Anbieters zum Opfer fallen.
Trotz dieser Bedenken zeigt die Erfahrung bei Pharmaunternehmen, dass eine strengere Regulierung weder ein Hemmnis für Innovation sein noch zwingend Auswirkungen auf die Bezahlbarkeit der Produkte haben muss.
Für Arzneimittel erfolgen Zulassungen in der EU über eine zentrale Stelle, die Europäische Arzneimittel-Agentur. Die Zulassungsvoraussetzungen sind dabei deutlich strenger als bei Medizinprodukten und IVD. Ungeachtet der strengeren Zulassungsbedingungen wurde in den letzten Jahren der Begriff „Innovation“ ausgerechnet in der Arzneimittelindustrie ganz groß geschrieben. Von Präzisionsmedizin über Gentherapie bis hin zu kontinuierlicher Produktion – die Branche hat gezeigt, dass sie sich erfolgreich an immer weiter wachsende regulatorische Anforderungen anpassen und sich selbst neu erfinden kann.
Auch im Bereich Medizinprodukte werden zahlreiche vielversprechende Neuerungen in Aussicht gestellt, wie etwa der 3D-Druck von Haut und anderen Organen oder auch Diagnostika, die Künstliche Intelligenz (KI) nutzen. Die zusätzlichen Anforderungen durch MDR und IVDR werden Unternehmen, die an diesen und vielen weiteren neuen Behandlungsarten oder Geräten arbeiten, hoffentlich nicht daran hindern, weiterhin nach Lösungen zu suchen, die der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Menschen dienlich sind.
Über die Autoren:
Als Leiter des Casualty Risk Engineerings berät Markus Kälin die Life-Science-Branche. Seine Promotion in Biotechnologie und Gentechnologie absolvierte er an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). Her Kälin arbeitet in Zürich und ist per E-Mail unter markus.kaelin@xlcatlin.com erreichbar.
Marc Werdehausen ist Life Science Industry Practice Specialist und als Senior Underwriter Casualty bei XL Catlin unter anderem verantwortlich für die Zeichnung von Life Science Risiken in Deutschland. Er arbeitet in Hamburg und ist erreichbar unter marc.werdehausen@xlcatlin.com.
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